Autoren-Adventskalender 2025
KMV / November 2025
Der Talisman
Wie schnell die Dezembertage vergangen sind. Dreiundzwanzig Schachteln habe ich bis heute geöffnet und mich wie ein Kind über die kleinen Geschenke gefreut. Ich öffne die letzte Box und entnehme ein rotes Seidenbeutelchen. Rasch knote ich es auf und lasse den glitzernden Inhalt auf meinen Schoß gleiten. Beim Anblick des Charms ploppen Erinnerungen auf. Kühl liegt er in der Hand und ich fühle mich auf einmal wieder zurückversetzt in den Nikolaustag 1994, als ich fünfzehn Jahre alt war. Ich greife zum Handy und wähle Julias Nummer.
„Hallo Pia. Säckchen 24 geöffnet?“, plappert sie drauflos.
„Dein Adventskalender hat mir jeden Morgen ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert, so liebevoll hast du die Teile für mich verpackt. Und heute das letzte Beutelchen. Welch schöne Idee. Ein Schlittschuh. Erinnerst du dich an den Nikolaustag vor über zwanzig Jahren? Wir hatten geplant, Eislaufen zu gehen, aber du warst krank geworden. Erst wollte ich nicht alleine los, aber dann habe ich es mir doch anders überlegt.“
„Na klar, weiß ich das noch. Und es war der Anfang von …!“ Julia zieht die Worte extra in die Länge.
„Ja. Ja.“ Ich tue es ihr gleich. „Meiner großen Liebe. Ich sehe mich, wie ich über die Eisfläche gleite. Abstoße, gleite, abstoße, gleite. Von den Buden her duftete es nach Kakao und Popcorn. Mariah Careys Lied „All I Want For Christmas Is You“ trug mich über die mattgrauweiße Fläche. Über mir funkelten die Sterne. Ich versuchte eine Drehung, verlor das Gleichgewicht, mein Schal verhedderte sich in den Kufen und plumps … wie ein Käfer lag ich auf dem Rücken. Bevor ich mich aufrappeln konnte, griff eine Hand nach meinem Arm.“
„Stefan!“ Julia lacht.
„Drei Jahre älter als ich und dein Bruder. Damit ich beim Aufstehen nicht weggleiten konnte, hatte er seine Kufen quer gestellt und mich zu sich hochgezogen. Für einen Moment lehnte ich mich an ihn. Ich schaute in seine braunen Augen und war im Bruchteil einer Sekunde verliebt. „Alles in Ordnung?“, hat er mit seiner warmen Stimme gefragt. Und ich: „Geht schon!“ Ich spürte, wie mir die Röte wie ein rot kandierter Apfel ins Gesicht geschossen war und mein Herz bis zum Hals klopfte. Er drückte meine Hand, löste sich von mir und glitt rückwärts zu seinen Freunden.“
„Ich weiß. Er hatte mir von deinem Sturz erzählt. Ich habe es dir am nächsten Tag in der Schule sofort angesehen. Du warst verändert. Verliebt eben. Deine Augen strahlten.“
„Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch. Ich konnte nur noch an Stefan denken. Bei der Mathearbeit hast du mir in die Seite geboxt, sonst hätte ich die Arbeit verträumt.“
„Dafür sind Freundinnen da.“
„Einen kleinen Dämpfer hast du mir aber verpasst.“
„Sorry, ich wollte es dir nicht verheimlichen. Ich wusste, dass Stefan mit Susi zusammen war.“
Dass ich noch eine Stunde auf der Bank an der Bande gesessen und gesehen hatte, wie er Hand in Hand mit einem Mädchen Runden drehte, hatte ich für mich behalten. Ich hatte mir vorgestellt, ich wäre es, und davon geträumt. Verliebt eben. Julia hatte meinen Traum wie einen Riss auf der Eisfläche zerplatzen lassen.
„Ich habe tagelang geheult. Es tat so weh. Und dann hast du mich zum 2. Advent zum Mittagessen bei deiner Familie eingeladen und wir haben mit Stefan den ganzen Nachmittag Monopoly gespielt.“
„Gähn. Langweilig!!“
„Mir hat es gefallen.“
„Klar, du hättest sogar Mau Mau gespielt, um Stefan anzuhimmeln. Auf jeden Fall hat es funktioniert. Ich war sozusagen euer Liebesengel. Was klimpert denn da?“
„Ich hänge den Schlittschuh an mein Armband. Die anderen Charms klimpern so schön, wenn ich den Arm bewege. Passt ja zu Weihnachten. Ich danke dir für die kleinen Geschenke. Jedes einzelne hält meine Erinnerungen an unsere Freundschaft wach.“
„Mir geht es genauso. Wir sehen uns morgen zum Weihnachtsessen.“
„Bis morgen, Schwägerin. Und beste Freundin, ever.“ © 13.11.2025 KMV
